Wunderkarte: Pfad- und Wegelager
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Zwitter
So satt ist das Grün nur einmal im Jahr. Wir gehen unter dichtem Blätterdach, nach dem langen Winter wie abgeschnitten vom Himmel; über den Baumkronen schleifen nasse Wolken. Blau sehen wir selten, und dafür müssen wir zu Boden schauen: Akelei und Gundermann, Veilchen und Männertreu; nicht einmal du kennst alles, was da wächst und uns himmel-, dunkel-, saphirblau entgegenblüht.

Zwei Weinbergschnecken, große Tiere mit verwitterten Gehäusen, haben am Wegrand zusammengefunden. Sie stehen, weit aus ihren Häusern gereckt und die Fußscheiben aneinandergeschmiegt, senkrecht im feuchten Gras, die Mantelränder eine gemeinsam gewellte Linie, glänzend naß. Ihre Taster spielen miteinander, die Augenstiele richten sich ins Ferne; sie tanzen einen Zeitlupentanz, den sie nicht unterbrechen, als wir zwei neugierigen Menschen uns über sie beugen.

Eine dritte Schnecke bewegt sich auf das Paar zu, und da, etwas entfernt, eine vierte noch. Wir warten nicht ab, was weiter passiert, sondern überlassen die Tiere ihrem Liebesspiel. Man will ihnen Menschenbegriffe zuschreiben: zärtlich, ekstatisch, hingegeben.

Zwitter, sagst du: sie fühlen genau dasselbe.

Später, da neigt sich der Tag schon wieder, bist du mir im Anstieg voraus. Du läßt mich nicht merken, wenn du schneller bist; du wartest an der Hangkante auf mich, ziehst mich an dich und läßt mich an deiner Haut zur Ruhe kommen, unter deinem Hemd, wo meine Hände blind ihr Ziel finden. Meine Fingerspitzen, deine Brust: eine kleine Fassungslosigkeit lang stockt uns beiden der Atem.

Noch später reißt es uns in entgegengesetzte Richtungen auseinander. Du winkst am Bahnsteig, bis ich dich nicht mehr sehe; ich habe dir all meine Schokolade geschenkt. Es ist kalt draußen. Ich sitze im Zug und friere.
 
 
18. Mai 2016, 16:51                               ° gegangen

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