Wunderkarte: Pfad- und Wegelager
Aufbruch
Ganz am Ende des Bahnsteigs steht ein alter Mann. Er fällt mir auf, so angespannt steht er außerhalb des überdachten Bereichs und trägt trotz des Nieselregens den Schirm zusammengerollt am Arm. Abwechselnd starrt er in Richtung des Zuges und auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Als die Bahn sich endlich ins Gleis fädelt und bremst, strafft er sich und geht über den Bahnsteig zurück, Ausschau haltend. Wettergegerbt wirkt er, mit sonnenbleichem Rucksack und derben Schuhen; er ist ein klein wenig krumm, aber er geht mit ausgreifenden Schritten.
Plötzlich hält er inne; sein Gesicht erstrahlt, seine ganze Gestalt richtet sich auf einen Punkt, und er beschleunigt den Schritt: eine alte Frau ist aus dem Zug gestiegen, auch sie mit festem Schuhwerk. Schmal und leicht gebeugt steht sie auf dem Bahnsteig, knöpft die Jacke zu, rückt einen verbeulten Herrenhut zurecht und hebt den Blick.
Ich kann nicht hören, was die beiden sich zur Begrüßung sagen. Als er sie in seine Arme zieht, leuchtet ihr Gesicht über seiner Schulter; mit einer Hand hält sie den Hut fest, ein paar weiße Strähnen sind ihr aus dem Haarknoten gerutscht.
Gepäck hat sie keines. Er bietet ihr den Ellenbogen, und untergehakt gehen sie über den Bahnsteig davon. Sie hebt ihm im Gespräch das Gesicht entgegen, lächelnd; er geht nun ohne jede Hast.
Aus dem Fenster des losrollenden Zuges sehe ich, wie die beiden die Treppe zum Ausgang nehmen, und spüre hinter meinem eigenen Lächeln eine Sehnsucht, fast etwas wie Neid auf die beiden Alten.
Ich bin, Lieber, auf dem Weg zu dir.
5. Juni 2013, 01:03 ° erwünscht
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