Wunderkarte: Pfad- und Wegelager
Was mich bewegt
Ich besitze zwei Kieselsteine, ziemlich gleich farbig, ziemlich gleich groß. Sie sind kugelrund geschliffen: Kinderspielzeug aus einer Zeit, als Glasmurmeln unerschwinglich waren. Einer der beiden Steine hat eine Unebenheit, eine Beschädigung, die fast glattgeschliffen ist. Diese Murmel rollt nicht ganz so berechenbar wie die andere.
Man machte so etwas, hörte ich, indem man runde Kiesel in einem schnellen Bach in eine Unterwasserhöhlung legte, wo sie sich im Strudel aneinander und am umgebenden Stein rieben, bis sie nach langer, langer Zeit -- nach Jahren, vielleicht -- zu Murmeln taugten. Die Kinder, die damit gespielt haben (sagte der, der sie mir überließ), die sind auch schon lange tot.
Ich liebe vieles an diesen beiden Steinen. Sie sind die einfachste Sache der Welt und dienen zum Spiel, einem der kompliziertesten Dinge auf Erden. Hergestellt sind sie ohne Mühe, aber mit viel, viel Zeit. Vielleicht hat ein Mensch diese Steine fürsorglich ins Wasser gelegt, damit ein Nachgeborener mit Murmeln spielen kann?
Für mich sind diese beiden Murmeln ein Zeichen von Weitblick, von Einfallsreichtum und von Liebe. Absichtslose Schönheit. Nach solchen Zeichen sehne ich mich.
18. Januar 2015, 14:45 ° betrachtet
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zu Tisch
Wenn ich bei dir bleibe über Nacht, empfängt mich auch der Duft aus deiner Küche. Üppige Suppen, Schmorfleisch, Hühnerherzen: unsere Vorstellungen von Festmählern ähneln sich. Aber auch das Tagfürtägliche, Reis, Nudeln, etwas Grünes, ist nie gewöhnlich. Du hast Freude an Gewürzen; und Obst oder Gemüse, da nimmst du es nicht so genau. In allen Gerichten ist eine Zutat, die ich nicht raten kann.
Du kochst, sagst du, weil du mußt. Jeden Tag; für alle wie für dich allein. Dem mißt du Zeit zu. Du kochst ohne Ritual oder Brimborium: vors Essen haben die Götter die Zubereitung der Speisen gestellt; ist halt so. Knappe Handgriffe für schlichte Dinge: das leise, gemessene Geräusch deines Messers auf dem Schneidbrett, ein brodelnder Topf, den du auf die kleine Platte schiebst, und wie du Gewürz auf die Handfläche kippst. Geläufig, und doch mit Konzentration. Ich muß dich manchmal hinterrücks umarmen dabei.
Ich sehe dir gern zu. Ich esse gern, was du mir auf den Tisch stellst; es ist gut. Es ist von dir.
10. November 2014, 18:19 ° betrachtet
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Papier
Über deinem Schreibtisch reihen sich Kladden verschiedener Formate. Um dein Bett herum, auf deinem Küchentisch, an allen deinen Lese- und Ruhe- und Arbeitsplätzen finden sich Zettel in deiner Handschrift. Zwischen Zeitschriften. Auf Bücherstapeln und als Lesezeichen in Büchern, die du mir leihst.
Manchmal lese ich schneller, als ich wegschauen kann: Staunwörter, Wörter mit Klang, halbe und ganze Zeilen für Gedichte. Fremde und alte Sprachen. Träume, vielleicht. Hier ein ich, da ein du.
Wörter scheinen dir zuzulaufen, dich zu belagern, zu umschwirren. Ich weiß nicht, wie viele davon du einfängst und zu einem deiner Muster legst. Ich weiß nicht einmal, ob du sie notierst, um sie zu behalten oder um sie loszuwerden. Auf deinen Zetteln sind sie ohne Zeit und Ort.
Worte sind, sagst du, was in der Welt sich dir nicht entzieht. Treu nennst du sie.
So wirst du deiner Welt mit Worten Herr und all der Worte mit dem Stift, auf kleinen Zetteln, die du um dich auslegst wie Wegmarken, aufhäufst zu einem papiernen Nest.
2. November 2014, 09:53 ° betrachtet
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Widerschein
Du läßt die Rolläden fast ganz herunter, und aus dem Abendlicht auf deinem Gesicht wird ein sanftgrauer Glanz. Später noch löschst du die Lampe am Bett, über mich gebeugt; da leuchtet deine Stirn noch einmal blendend vor der Nacht.
Im Schlaf ist deine Haut das Hellste im Raum. Ich bestaune die Klarheit aller Linien, deinen Schein in der Schwärze.
Ich mag die Lider noch gar nicht heben, als du das erste Licht der Frühe entzündest: eine einzelne Flamme, die Schatten auf deinem Gesicht tanzen läßt. Bald darauf blinzele ich in den Glanz, der aus der Küche deine nackte Gestalt umfließt: du brühst uns Kaffee, den wir dann, aneinandergelehnt, unter deiner Decke trinken werden, während uns allmählich wieder Worte wachsen.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich: einem Licht, einer Flamme, der Sonne zugewandt. Du leuchtest. Du schaust mich nicht an; du leuchtest.
3. Oktober 2014, 23:34 ° betrachtet
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