Wunderkarte: Pfad- und Wegelager
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Sonne, angebissen
Das Licht hat was von Untergang, dabei steht die Sonne hoch überm Horizont. Die Landschaft verschattet leise, und plötzlich fühlt sich die Luft nach Winter an. Wir gehen weiter, um warm zu bleiben, und weil die Sonne selbst jetzt noch zu hell ist für den Blick, schauen wir einander an im Halblicht. Der Himmel steht voller Lerchen.

Auf allen Landstraßen ein einsamer Radfahrer, schnell, das Gesicht verhüllt. Die Sonne wächst schon wieder, da schlüpfen wir in den Wald zu Goldammer und Rotkehlchen, ein Stückchen weg vom Weg: über deiner Zärtlichkeit der blaue Himmel in den Zweigen.

Auf deiner Haut ist das Licht dann ganz gesund; warm und schön bist du meinen Händen, unfaßbar. Wie Milch so schön.
 
 
20. März 2015, 22:46                               ° gegangen

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Die Kraniche sind zurück.
Eben muß hier noch Schnee gelegen haben. Die Wiesen sind bleich, die Halme liegen platt; bei jedem Schritt schmatzt es schlammselig, und wir stehen im milden Frühjahrslicht, von oben bis unten bespritzt.

Grün ist nicht mal eine Ahnung in der Landschaft. Die Hügel strecken sich gelb und bräunlich, die Sonne rollt darüber hin. Ich bin müde, so müde. Wenn wir stehen bleiben zum Verschnauf, hocken die Vögel unsichtbar im Dorngesträuch und füllen es mit Liedchen. Du läßt mich auf deiner Schulter ausruhen.

Überm Weg schaukeln sonnenbesoffene Schmetterlinge, die nicht wissen können, daß ich Weihnacht im Rucksack trage: Apfel, Nuß und Mandelkern. Da, die Kapelle am Wegrand: der ungeschlachte Heilige glänzt im Meer der Kerzen, die ihm geweiht sind; er, der alle Visionen gottgefällig überstand, steht nun selber da wie ein finsterer Traum. Die Leute scheinen ihn zu lieben.

Du hast den Weg gewählt, und der streckt sich nun in der Wärme. Schön, flüstere ich und lege Wolle ab. Über den Rücken eines Drachen führst du mich, in Bögen und Schwüngen hoch und höher; die Sonne legt sich wie eine Schleppe auf unsere Schultern, während die Luft um uns glitzert von Insektenflügeln. Noch tiefer, unten im Tal, glänzt schwarz der Fluß.

Da plötzlich, Zauber aller Zauber, ein helles, klagendes Signal: eine, zwei, drei Ketten von Kranichen pflügen durch den Himmel, bleiben, kreisen, schrauben sich mit den Aufwinden ins Blau, ein komplizierter Tanz, eine Prozession, begleitet von Getröt.

In neuer Höhe setzen sie ihren Nordweg fort. Wir steigen hinab ins Tal, wo der Fluß ist und der Bahnhof. Ich bin so müde.

Du ziehst mich an dich. Ich rolle mich in deinem Arm zum Schlaf zusammen, und während ich alles vergesse, nimmst du mich mit dir.
 
 
10. März 2015, 13:54                               ° gegangen

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Auf der Bank an der Promenade in der Sonne,
und der erste Buchfink schmettert das Frühlingslied. Wir machen kleine Schritte vor dem Schatten her und trinken sehr viel Kaffee. Ein bißchen matt, ein bißchen froh, ein wenig ängstlich, aber aufgehoben in den zwei, drei Stunden auf Armeslänge.
 
 
22. Februar 2015, 16:20                               ° gegangen

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Schutzmantel
Der Weg, so herrlich (und von dem du keine Stunde hattest hergeben wollen), er endete nach einem Kaffee am Kirchlein außerhalb des Dorfs, an der Westmauer zwischen Kräutern und Pfarrergräbern; da lagst du auf einer harten Bank in der Abendsonne, den Kopf auf meinem Schoß, und ich wanderte mit meinen Fingern über deine Wangen, deine schöne Stirn. Der Brunnen nahebei rauschte üppig, vielleicht meinte er den Fels, den Mosis Stab geschlagen; so quoll in mir die Zärtlichkeit, daß alles andere Denken, alles Fühlen verblaßte, und übrig blieb: daß es dir wohlergehe. Daß du es nie anders habest als gut. Ich hätte die Ränder dieses blauen, blauen Himmels fassen und um dich ziehen mögen wie einen Mantel, daß nichts dir jemals etwas anhaben könne.

Und über dem Rauschen, über Eidechsen, Weinraute und toten Pfarrern wurde der Himmel allmählich blasser, das Blau ließ sich doch nicht halten; da standen wir auf und gingen, jedes mit seinen Gedanken, Hand in Hand dem Bahnhof zu, über dem es dunkel werden und der uns wieder in verschiedene Richtungen bringen würde.
 
 
7. Februar 2015, 09:07                               ° gegangen

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Heimwärts
Langsam weiß ich wieder, wie die Namen auf den Ortsschildern klingen, auch wenn ich manche zum ersten Mal lese. Ich nenne sie dir alle, immer tastend, ob da noch Geschichten kommen wollen nach so langer Zeit.

Der Weg mäandert -- ist das nicht der Nußbaum von vor einer Stunde? -- und hält sich auch nicht ganz an die Karte; ich mäandere anderweitig: war nicht J. von B. nach W. gezogen? Und der Vater von S., hat der nicht in L. gearbeitet? Du kennst sie alle nicht, aber du gehst geduldig neben mir, schaust mit mir über die Autobahn und geschwollene Dörfer.

Schließlich der Wald, der mein allererster war (oft auf den Schultern des Vaters, wenn ich nicht mehr mithalten konnte); und wie ich plötzlich einen Baum erkenne (kann das sein, im Wald einen Baum?), zierlich erscheint er mir, aber die Gestalt stimmt, und ich denke, das muß er gewesen sein; vielleicht irre ich mich, ich weiß es nicht.

Am Waldrand deutest du auf ein Schild: drei Kilometer nur bis zu meinem Dorf, zur Schule und Bach und Bäckerei, Straßen und Winkel voller Kindergeschichten, alter Freuden und Kümmernisse ... Ach, da möchte ich nicht hin; laß uns heute den anderen Weg nehmen, heute den Kirchturm von ferne betrachten. Aber wenn ich irgendwann diese drei Kilometer auch noch gehe, dann hätte ich dich gern bei mir.
 
 
26. Januar 2015, 20:37                               ° gegangen

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Sturmwarnung
Aber wann, wenn nicht jetzt? Also besser einen Weg ohne viel Wald, mit Ein- und Umkehrmöglichkeiten, Regenkleidung eingepackt, und los. Man nimmt, was man kriegt. Spatz in der Hand. Und stürmische Zeiten, sowieso.

Der Weg führt uns tief ins Land, und wir gehen ihn einträchtig, im vertrauten Schritt, fast dreißig Kilometer, aber die merken wir nicht, oder doch nicht sehr. Durch die Baumkronen tobt der Wind, und weil er da nichts findet, wirbelt er das Laub vom Boden auf. Wir klettern querfeldein, und es riecht nach Frühling.

Irgendwann steigen wir aus dem Talgefältel auf die Höhe. Der Wind nimmt Anlauf, aber so recht in Fahrt kommt er nicht; wir schauen über sattgrüne Felder und kahles Gehölz, sehen Wolkenbänder wie von Gemälden, Hügel und Wälder und Städte, und dahinter: Blau. So eines kann nur der Horizont tragen; rufendes, lockendes Blau, das ins Herz schneidet und zugleich verspricht, wenn man nur käme, dann würde es sich schon wie ein sanfter Mantel auf die Schultern legen, ein Zaubermantel, einer, der keine Wünsche offen ließe --

Diese Fernen kennen wir schon; da sind wir überall schon gewesen. Uns ist die Nähe viel gefährlicher: Kuß und Lächeln und die Wärme, die meine Hände unter deiner Kleidung finden. Alles, was wir am Ende dieses Weges zurücklassen müssen. Du bist fern, fern, fern. Und wann sehen wir uns wohl wieder?

Am Ende tobt und heult das Blau, da hilft es gar nicht, ins Haus zu gehen.
 
 
9. Januar 2015, 23:51                               ° gegangen

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Durch den Schnee
Fast wäre es nicht -- und dann wurde es doch, und das war ganz ausgezeichnet: ein Weg für uns noch dieses Jahr, und dazu einer voller Winter. Sechs Grad minus, doch für uns war, was noch grün war, grün stehengeblieben unter Reifkristallen, in zarten Panzern aus Eis.

Die Sonne hing niedrig über den Feldern und setzte den Schnee in Brand; jeder Zweig stand klar gegen den Glashimmel, in dem die Bäume vergebens nach Wolken fischten. Und wir: trugen unseren Atem sichtbar übers Land und mußten uns vor lauter Herrlichkeit immer wieder drehen. Für Pausen war dieser Weg viel zu kurz; das, und zu kalt.

Mit dir ausschreiten: die Anhöhe noch, da wird uns warm; mit dir ausschauen: da waren wir, dort wollen wir noch hin. Und wie ich einmal fast fiel und mir der Schreck noch lange durch die Knochen hallte, bis ich ihn an deiner Hand vergaß.

Am Ende dann, im Zug, da nahmst du meine Hände, meine eiskalten Hände unter dein Hemd. Und da lehnte ich an dir, hinter den Lidern weiße Landschaft, unter den Händen die Wärme deiner Haut und im Ohr dein gemurmeltes: ich liebe dich.

Diese, wie viele werden es gewesen sein: vierzehn Minuten vielleicht, die wurzeln und wachsen und blühen, als wäre der ganze Winter draußen schon wieder vorbei.
 
 
31. Dezember 2014, 01:27                               ° gegangen

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Verfremdung
Wenn's bergauf ging, sahen wir dich von hinten. Wie mühelos du gingst. Und wie die anderen schnauften und zu einem deiner Schritte zwei machten.

Ich fehlte neben dir. An Aussichtspunkten zupfte ich dich nicht am Ärmel, und wir grinsten uns nicht zu, Stirn an Stirn.

Dafür konnte ich dich von ferne sehen. Ich sah dich in Haltung, in Bewegung, wie du in die Karte schautest und Brote aus dem Rucksack holtest; ich sah dein ernstes Gesicht -- und sah dich plötzlich lächeln, da sprang jedes Mal mein Herz.

Der rasche Abschied zum Schluß: der war nicht unserer. Die lieben Worte nahm ich alle wieder mit nachhaus.
 
 
22. Dezember 2014, 19:22                               ° gegangen

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Verkürzung
Wir treffen uns, da ist der Tag gerade aus der Dämmerung geschlüpft. Den Weg müßten wir kennen. Zwar war es damals heiß, und heute gehen wir in Wolle; aber wo ist denn dieser steinige Aufstieg in der Sonnenglut? Wo ist der Baum, unter dem wir ruhten, wo die Bank, auf der wir Wasser tranken?

Dafür kommt hinzu: der schöne Pfad mit der Stahlseilsicherung, in leichtem Regen zu gehen. Der Fluß, wie er blaugrün durch die kahlen Bäume schimmert; und im Fichtendickicht die hohe Kirsche, vielleicht ein Waldarbeiterimbiß von vor zwanzig Jahren, die den Wegsaum mit Gold bestreut.

Und dann beginnt die Zeit zu rennen. Es ist erst heller Nachmittag, da sind wir schon am Ziel. Kein Gasthaus für uns, also legen wir die ganze Strecke noch einmal zurück, im Zug, in sieben Minuten. Nach dem Kaffee müssen wir uns beeilen, und dann fährt mein Zug nach Hause noch eine Minute früher als gedacht, du winkst vom Bahnsteig, ich reise in die Dämmerung und denke nicht viel mehr als: wie warm deine Lippen waren, wie weich; und du: wie gut in meinen Armen.

Die Tage werden noch eine ganze Weile kürzer. Dieser hier, der war schon jetzt zu kurz.
 
 
26. November 2014, 18:50                               ° gegangen

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Der Quelle zu
Die rote Linie dicht bei der blauen auf der Karte: ein Weg am Bach, ohne Hast zu gehen zwischen den Dämmerungen.

Aber was für ein Bach dann in dieser braven Gegend! Mit Schnellen und Fällen, tief eingeschnitten in dreierlei Gestein. Aus dem weiten Flußtal treten wir in eine feuchtkühle Enge, überwölbt von Buchengeäst. Da hat sich das Wasser ein Bett geschliffen aus dem Schiefer, mit Millionen samtiger Spiegelchen als Streu. Ich stecke eines davon in die Tasche.

Ein Weg hat hier eigentlich keinen Platz; darum führt uns über Felsen und Buchenkupferlaub der schmalste aller Pfade. Ich folge dir: wenn du vorangehst, kann ich die Augen schweifen lassen. Schritt setzt du vor Schritt, bedächtig und sicher, bis ich wieder rufe: schau doch nur!

Heben wir die Köpfe, hängt über uns Fels. Zu unseren Füßen durchwachsen Baumwurzeln den Schiefer: wir klettern über ein Gemisch aus Stein und lebendigem Holz. Im Sommer steht der Farn hier sicher dicht; jetzt, zum Winter hin, flirren ein paar gelbe Blätter. Auf den nassen Hängen leuchtet Moos wie angestrahlt. Zweimal stören wir einen Reiher auf, der, viel zu groß, links und rechts mit den Flügelspitzen die Felswände zu streifen scheint.

Der Bach füllt das Tal mit Geschwätz. Sein Rauschen ist ein Gewirr von Stimmen aller Lagen und Farben; das singt und ruft und lacht und murmelt, einzelne Wörter verstehen wir immer nur fast. Gebell ist auch dabei. Daß die Alten sich Nymphen ins Wasser gedacht haben, Necker, Nixen, Najaden, ich kann es glauben.

Später am Tag wird das Licht trüber und der Bach leiser. Ich hole das taschenwarme Schieferstück hervor und lasse es ins Wasser fallen: In dreihundert Jahren, sage ich, ist es wieder da, wo ich es eingesammelt habe. Wir schauen nach, ja? Du lachst: Ja, in einem anderen Leben schauen wir nach.
 
 
15. November 2014, 09:17                               ° gegangen

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