Wunderkarte: Pfad- und Wegelager
Dreißigtausend Meter
Die Strecke, die du geplant und mir elektronisch gesendet hast, sei vielleicht ein wenig weit, schreibst du. Eine schöne Strecke, mit Anstiegen und Ausblicken, Wald und Fluß. Ein kleines Sigma ungefähr, ein bißchen verzitterter Zierat daran.
Versehentlich schalte ich die Kartenansicht auf global. Auf meinem Bildschirm drängen sich nun die Kontinente: Unsere Wanderstrecke ist ein blauer Punkt, ein Einstich in der Mitte Europas, umzingelt von Landesgrenzen. Von Algerien aus nicht wahrnehmbar; verglichen mit den Weiten Skandinaviens egal.
Ich klicke wieder und wieder auf „Vergrößern“. Links verschwindet Spanien, rechts die russische Föderation hinterm Bildschirmhorizont. Oben fehlt bereits Dänemark, unten Italien, und immer noch ist das Zentrum dieser Karte ein blauer Punkt, ein Ameisenauge.
Schottland ist nicht mehr und nicht die Alpen, Paris und Prag fallen gleich von meinem Tellerrand, doch mehr als die Farbe läßt sich nicht erkennen von unserem geplanten Weg.
Endlich steht rechts Tschechisch und links Benelux, und da haben wir es wieder, das Sigma, das kleine, mit Länge und mit Breite. Drei, vier Vergrößerungen später erst lese ich Ortsnamen, sehe ich Gipfel und Täler und Bahnhöfe.
Lieber, schreibe ich dir, natürlich gehen wir die Strecke. Einmal um die Erde sind es auch bloß vierzigtausend Kilometer.
6. Juni 2013, 17:44 ° entfernt
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Zu Besuch
Am Bahnhof in der Frühe stand dir der Ernst im Gesicht, wie beim allerersten Mal. Ich behielt die Hände in den Taschen, um dich nicht versehentlich zu berühren; dann ging ich neben dir durch meine Stadt, in der ich nicht mit dir gehen darf.
Wir spazierten stromaufwärts, wo ich sonst alleine bin. Der Fluß: eine kabbelige See voller Treibholz; zu den bunten Frachtschiffen mußten wir aufblicken.
Ich ging, stand, saß, aß, redete, lachte neben dir, deine vertraute Gestalt auf Armes Länge und im Blick, und sehnte mich nach dem mit, das dem dir so fehlte wie mir dein Du.
Wir gingen ja in Gesellschaft, eine ganze Prozession: Meine Angst und deine Angst waren dabei, meine Sehnsucht. Dein Mut, der für uns beide reichte. Unsere Hoffnung. Umflattert von Geschichten und von Lachen, das sich immer wieder löste. Der Übermut.
Flußabwärts, später, war das Wasser noch gestiegen. Schwäne saßen zischend auf dem Promenadenweg.
Als wir abends auf deinen Zug warteten, zitterte der Raum zwischen uns vor Erleichterung und Verlangen. Auf dem Heimweg, meinem kurzen, deinem langen, spannte sich der Faden, der uns verknüpft, im ganz genau gleichen Maß.
Das hier, das haben wir geschafft.
3. Juni 2013, 23:14 ° gemerkt
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Keine Frage
Immer wieder: Zwischen den Landstrichen des Entzückens tut sich in deinen Augen ein Abgrund auf. In den stürzt und stürzt mein Blick, und mein Herz beginnt zu flattern über dieser Tiefe.
Drunten drängen sich Worte, zu groß, sie zu sagen; so gewaltig, daß man sich leicht in ihrem Schatten verliert.
Wir werfen uns das Echo zu, hin und wieder her. Dann fassen wir uns bei der Hand. Und springen.
3. Juni 2013, 19:34 ° eingenordet
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Daheim
Am tieferen Gewässer immer wieder feststellen, daß der Sprung, das vorsichtige Schlittern, das Balancieren dann doch über eine feste Brücke führt.
Und nun sollst du sehen, welche Konstruktion mich trägt, wo ich mich ohne Karte auskenne. Da brauchen wir wieder beide allen Mut.
Danach: sehen wir weiter, wissen wir mehr.
30. Mai 2013, 19:46 ° davor
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Abseits der Wege
Die ersten Schritte auf der Flußpromenade, im gelben Laternenschein, folgten noch etwas zaghaft dem Schwung deiner Ohrmuschel, der Wölbung deiner Wange. Später führte ein kühnerer Anstieg über den Rücken deiner Hand, bis dein Puls sich beschleunigte. Danach war es schwierig, nebeneinander zu gehen.
Der Pfad fand sich, er läßt sich immer finden: Abstieg an der Kehle vorbei durch die Täler des Schlüsselbeins; über die Schulterblatt-Ebenen, den Hohlweg die Wirbelsäule entlang. Den Linien, den Falten, den Zeichnungen der Adern folgen. Wo wir mit Händen nicht vorankommen, überlassen wir uns Lippen und Zunge. Ketten von Küssen über die Flanken, über Hindernisse hinweg und über Senken, schauernde Haut und knisterndes Haar; immer wieder verharren und das Echo erproben, über Um- und Abwege streunen. Das Terrain ist nie ganz vertraut, aber entgegenkommend.
Und wer weiß, wo das hinführt? Wir gehen ja ohne Karte außer der, die wir uns auf dem Weg entwerfen.
28. Mai 2013, 12:23 ° aufgezeichnet
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